Ganz Paris ist ein Theater . . .
Tomas Schweigen bringt das Schiller-Fragment «Polizey» an die Gessnerallee: sehenswert
Die Gruppe FarADayCage um den in Zürich ausgebildeten Regisseur Tomas Schweigen und die Schauspielerin Vera von Gunten haben sich mit Mut, szenischer Phantasie, Selbstbewusstsein und Spielwitz des Schiller-Fragments «Polizey» angenommen. Nach der Uraufführung im Rahmen des Schiller-Festivals in Weimar kommt das Ergebnis als Schweizer Erstaufführung nach Zürich: ein Höhepunkt der Theatersaison 2005.
Mireille Matthieu, die Erfinderin des Pagenschnittes, sang es: «Ganz Paris ist ein Theater, und das spielt bei Tag und Nacht . . .» Tomas Schweigen, Wiederentdecker der Theatralik, sagte es anders und meint doch dasselbe, wenn er seine Inszenierung «Polizey» unter ein Motto stellt: «Der Mensch ist nur ganz Mensch, wo er spielt.» Das ist der Leitspruch von Friedrich Schiller, dem geistigen Vater des Abends, Verfasser des gleichnamigen Fragments, das in Paris spielt, Rollen spielt, Theater spielt, Publikum spielt.
Fragmentierung eines Fragments
«Polizey», fragmentarische Notizen, was heisst das? Eine Verwechslung löst eine Mordserie aus: 1 Gastwirt stirbt («Gastwirt» mit Namen), 1 Sohn eines Kaufmanns stirbt («Sohn eines Kaufmanns»), 1 Kaufmann stirbt («Kaufmann»), 1 fromme Tochter stirbt («fromme Tochter»), 1 Heuchler («Heuchler») stirbt. Verblichen, verröchelt, verendet wird auf Wunsch von Schiller - anwesend als sprechende Topfpflanze - im Paris von Marc-René d'Argenson, der 1697 bis 1715 oberster Polizeichef der Stadt war. Acht Darsteller sind im fliegenden Wechsel Fahnder und Gesuchte, Töter und Opfer in Personalunion. Auch Tomas Schweigen selbstredend ist beides, der Richter und sein Henker.
Man könnte hier und jetzt zu einem Exkurs ausholen, weshalb die Inszenierung zum Besten zählt, was in diesem Land in dieser Spielzeit zu sehen ist. Man könnte die konzeptuelle Stringenz loben, mit der sie den Fragmentcharakter der Vorlage wörtlich nimmt und überhöht - vom Bühnenbild (Stephan Weber) über die Kostüme (Weber und das Ensemble) bis hin zu Brachialbrechungen des Spielverlaufs und etlicher Halswirbelsäulen. Man könnte die provokante Gelassenheit der Schauspieler anführen, die entspannt im schäbigen, desillusionistischen Tourneetheater-Dekor sitzen und sich bald lustig, bald unlustig dazu aufraffen, den Anweisungen des Theater-Machers, Spiel-Machers zu folgen. Mit falschen Bärten und anderen archaischen Requisiten.
Denn was hier zu sehen ist, entwickelt und verwickelt sich auf mehreren Ebenen und ist dreierlei, mindestens: die Entstehung einer Theateraufführung; das Making-of eines Kriminalfilms - der Aktien besitzt beim Film noir und dabei vor allem nach dem ungelüfteten Regenmantel von Colombo mieft. Der Einsatz von Video als Überwachungskameras erlebt hier seine selten sinnvolle Peripetie! Und als Letztes und Wichtiges: Schweigens selbstironisches Ergebnis ist die Antwort auf Kritiker, die vom Theater Texttreue einfordern.
Bruch-Teilchen-Beschleuniger
Neun Seiten handschriftlichen Schiller hat man hier zur Hand, gegen 30 roh skizzierte Figuren, hingeworfene Handlungsabläufe und Gedanken zu einem möglichen Stück. Das Ensemble wird mit Akribie alle wesentlichen Punkte einlösen - und diese Forderung am glücklichsten: dass «alles wie ein Faden aneinander reiht und sich zuletzt wechselseitig auflöst». Schweigen gelingt das mit absurdem, irrwitzigem Resultat, als Reverenz an die Zauberkraft des Theaters.
Man könnte sich hier also auf formale Begründungen zurückziehen, um Argumente zu finden, die den Superlativ «Höhepunkt» erklärten. Doch hätte man damit weniger als die Hälfte des Charmes und der Suggestionskraft verstanden, die «Polizey» so (auf)reizend nonchalant verströmt. Abgesehen von der szenischen Intelligenz, mit der hier gearbeitet wird, bestechen Milieuschilderung und Atmosphäre - ein Erfolg der Musik als Bruch-Teilchen-Beschleuniger. Martin Gantenbein hat das disparate Stück-Werk mit einer Tonspur aus Zitaten der Filmgeschichte unterlegt, lässt Schweigen als Jacques Brel zur Klampfe greifen und das Ensemble als Chansonniers auftreten. Ah, c'est la France, ah, c'est Paris! So bedient Schweigen en passant auch das Amour-Belami-Pernod-Klischee, die Grande Nation im Rollkragenpulli von Sartre. Denn wie sang uns Matthieu: «Ganz Paris ist ein Theater, und das Stück heisst
(Neue Zürcher Zeitung; 25. Juni 2005/ Daniele Muscionico)
Die dunklen Seiten von Paris
(...) Handlungsort ist Paris Mitte des 18. Jahrhunderts, Hauptperson Polizeichef Argenson, der die dunklen Machenschaften in der Grossstadt mit viel Spürsinn und mit Hilfe von Überwachungskameras aufklärt. Der bisweilen tolpatschige Antiheld überführt den Mörder so überzeugend wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Das Publikum ist ihm dankbar für die glasklare Beweisführung. Auf diesen Mörder wäre es nie gekommen. «Du bist verhaftet», sagt Argenson. Der Mörder aber lacht und zitiert Schillers Vorlage: «Es wird im Stücke nichts bestraft als durch die natürliche Folge der Handlung selbst.» Sagt's, marschiert in eine Glastür und stirbt. Die Schlusspointe ist genial: Der Bühnenbildner Stephan Weber hat die tödliche Glasscheibe erst gegen Ende des Stücks in den Türrahmen eingebaut. Webers Arbeit ist Teil der Inszenierung, ein Work in Progress, und des Mörders Tod also ganz im Sinne Schillers «eine natürliche Folge der Handlung selbst». Ein witziger, ein origineller Beitrag zum diesjährigen Schillerjahr.
(Der Zürcher Oberländer; 25. Juni 2005/ Karl Wüst)
Das entfaltete Fragment
(...) Wenn die Gruppe FarADayCage, gegründet 2004 von Regisseur Tomas Schweigen und Vera von Gunten, das Heft in die Hand nimmt, wie sie das im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee nun bravourös tut, wird der fragmentarische Text bis auf die Satzzeichen praktisch neu vernetzt.
(...) Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (Schiller). Sogar das abgegriffenste Zitat bringt die Theatertruppe noch auf eine Idee. Denn FarADayCage ist selber eine Spielergesellschaft, die sich der grössten Sache annimmt, um sie auf Wohnzimmergrösse zu bringen. So war es einst mit dem Amerika-Projekt "Odysseus' Dia-Abend Spezial", so ist es jetzt auch mit "Polizey". Das Stück wird durch alle Ebenen hindurch parodiert, als ein Lustspiel und eine Tragödie zugleich. Eine Offenbarung ist dies in vieler Hinsicht. Überspielt wird jede Tiefenstruktur, und so verliert vieles, was eigentlich ganz schwierig ist, an Gewicht: Das ist die Grammatik der Leichtigkeit, mit der sogar der liebe Tod seine Mühe hat. Wenn etwas zu kompliziert wird, zum Beispiel der Auftritt von Illuminaten, wird mitten in der Szene abgebrochen. Zurück zur einfachen Lösung heisst die Devise. Grosszügig denken! Generös ist überhaupt die Inszenierung und das Ensemble spart an keinem billigen Effekt. Es gibt falsche Bärte und richtig gute Szenen. Knall auf Fall wird hier betrogen und gemordet, geraubt, dass es eine Freude ist für die Schauspieler und auch das Publikum.
Noch etwas vergessen? Dieses Theater hat bis zuletzt den Willen zur Komplettierung des Fragments. Denn zum Schluss wird husch, husch nachgespielt, was noch zur Vollkommenheit fehlte.
(Der Landbote; 25. 6. 2005/ Stefan Busz)
Paris, wie es singt und lacht
(...) Clever mixt die junge Zürcher Gruppe FarADayCage Genres und Ebenen. Problemlos wechselt sie vom Melodram zum Schwank und vom Krimi zum Comic. Gekonnt fällt man aus den wechselnden Rollen, spielt mit Brechungen durch Video, singt und parliert deutsch und französisch und manchmal beides zugleich. (...)
(Tages-Anzeiger; 25. Juni 2005/ Peter Müller)
Schiller als Big Brother
(...) Auf Stephan Webers zusammengeramschter Bühne zeigt Tomas Schweigens Ensemble die Unmöglichkeit, aus der Polizey eine stringente Aufführung zu machen. Aber irgendwie geht's doch. Das letzte Wort des Textes wird auf dem chaotischen Tableau untergebracht, jeder angerissenen Charakter, jeder Einfall. Und wenn's sein muss, hilft Schiller persönlich als Big Brother.
Das ist bei allem Chargieren das Zwingende dieser witzigen Aufführung: dass sie ihren Gedanken vom Überwachungsstaat hinter vorgehaltener Hand immer mit- und weiterspinnt. Alle sieben Schauspieler sind allzeit im Beobachtungseinsatz, jeder kontrolliert jeden, alle können alles hören. Und versteckte Wanzen in der alten Stehlampe und einer hässlichen Grünpflanze sowie lauter kleine Überwachungskameras, die vorgebliche Intimität via Leinwand öffentlich machen, bringen eine einfache, aber gefährliche Ordnung in das Durcheinander.
(Frankfurter Rundschau; 27. 6. 2005/ Michael Helbing)
Polizey d'après Schiller
(...) Quand de jeunes talents zurichois se lancent dans une parodie de vaudeville en se jouant allégrement des genres sur les fragments d’une pièce inachevée de Friedrich Schiller – Polizey – avec d’incessantes références au français, commencent sur un air de Carla Bruni « je suis le plus beau du quartier… », reprennent plus loin « Quelqu’un m’a dit » sur des intonations alémaniques, s’amusent sans cesse à décorer la pièce de répliques en français, en allemand avec accent français ou en français avec accent allemand – brisant au passage quelques barrières culturelles, le plaisir est au rendez-vous et les rires fusent. Plus de doute : précipitez-vous!
Un rythme enlevé pour une narration résolument moderne et vivante où la frontière entre réalité et fiction s’estompe, où les personnages s’emmêlent, s’entremêlent et se démêlent dans une dramaturgie issue d’un processus de création continue. La compagnie FarADayCage, créée en 2004, par le metteur en scène Tomas Schweigen et la productrice Vera von Gunten, tout deux diplômés de la Haute école de théâtre de Zurich, vient de recevoir la plus haute distinction de Premio (Förderpreis für junges Theater) : ce qui a particulièrement retenu l’attention du jury, ce sont la qualité des performances théâtrales, la mise en scène pleine de fantaisie et des images fortes… Comme le jeu de caméras vidéo qui permet au metteur en scène de multiplier les perspectives et les personnages. Les mêmes acteurs accumulent les rôles, ce qui ne manque pas de provoquer des situations délicieusement cocasses.
A recommander à toutes les personnes qui vivent le bilinguisme avec plaisir et dérision et partagent un intérêt pour la création contemporaine. (...)
(AUX ARTS ETC. Juni 2005/ RdR)